Halb Voll

Ich habe eine blaue Lippe. Rechts und links des Kiefers habe ich blaue Flecken. Auch am Oberarm, einen vorne, vier hinten. Jemand hat mich festgehalten. Jemand war grob zu mir. Jemand hat mir weh getan. Offensichtlich.

Das Problem ist, ich kann mich nicht erinnern. Ungefähr drei Stunden von Weiberfastnacht fehlen, sind ausgelöscht, bis auf das diffuse Gefühl, dass mir jemand weh tut. Natürlich, ich habe Alkohol getrunken. Ja, ich habe viel Alkohol getrunken. Ob es so viel war, dass ich einen Blackout habe? Ich bin geneigt mit „Nein“ zu antworten, doch das ist Mutmaßung. Ich habe – soweit ich weiß – keinen harten Alkohol getrunken, sondern ausschließlich Bier. Noch nie zuvor hatte ich eine solche Lücke. Dass ich nicht mehr alles so genau wusste, ja, das gab es schon, aber drei Stunden, die fehlen? Einfach weg sind? Noch nie.

Das erste, woran ich mich wieder erinnere ist, dass ich weine. Ich telefoniere mit meinem Freund. Um mich herum sind Menschen, die ich nicht kenne, die sich aber um mich zu kümmern scheinen. Meine Perücke liegt auf meinem Schoß, ein verfilztes, türkises Knäuel. „Nimm ein Taxi, fahr nach Hause! Ruf mich an, wenn du im Taxi sitzt!“ sagt die Stimme am Telefon. Das Display ist gebrochen, tausend kleine Mosaiksteine.

Der Funkmietwagen kann aus einem Grund, den ich nicht verstehe, nicht kommen. Ich beginne wieder zu weinen. Jemand sagt, er bringe mich nach hause. Da will ich hin. Nicht mehr warten, einfach nur heim. Ich laufe durch endlose Gänge hinter jemandem her, links, rechts, zwei Treppen hoch, vielleicht drei. In ein Parkhaus, vorbei an langen Reihen von Autos. Ein silberner Golf, okay. Die Lichter der Stadt ziehen vorbei, es wirkt wie ein Film. Ich werde in meine Wohnung gebracht. In mein Bett gelegt, zugedeckt. Die künstlichen Wimpern werden mir vorsichtig von den Augen gezupft. Ich höre die Tür ins Schloss fallen. Schlafen. 

Ich erwache mit mörderischen Kopfschmerzen. Muss mich übergeben. Es dauert lange, bis ich eine Ahnung bekomme, dass etwas passiert sein muss. Bis ich die Fragmente meiner Erinnerung mit den sichtbaren Spuren und den diffusen Gefühlsfetzen in Einklang bringe.

Jemand hat mich festgehalten. Am Oberarm, so, dass sein Handabdruck zu sehen ist. Jemand hat meinen Kiefer festgehalten, so, dass sich links und rechts große Blutergüsse gebildet haben. Jemand hat mich in die Lippe gebissen.

Und jemand hat mir geholfen. Hat erkannt, dass ich hilflos bin. Hat sich um mich gekümmert und dafür gesorgt, dass ich sicher in mein Bett komme. Hat meine Lage nicht ausgenutzt. Hat keine Gegenleistung erwartet. Es ist ein Gefühl der Dankbarkeit, das die Oberhand behält. Keine Angst. Keine Verletztheit. Ich fühle mich nicht als Opfer.

Meinen Blackout bedauere ich aus zwei Gründen sehr. Zum einen hätte ich diesem jemand äußerst gerne die Visage äußerst gründlich poliert. Als kleines Dankeschön. Und zum anderen macht es mich wahnsinnig traurig, dass ich mich an kein einziges Lied erinnern kann, auf das ich getanzt habe.

 

 

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